LAG Schleswig Holstein: Arbeitnehmer hat in Freizeit „Recht auf Nichterreichbarkeit“

Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hat, wie jüngst bekanntgeworden ist, bereits am 27. September 2022 (Az. 1 Sa 39 öD/22) ein Urteil gefällt, das gerade für viele Pflege- und Betreuungseinrichtungen hohe Relevanz hat.

Dort – wie auch in anderen Branchen – ist es gelebte Praxis, dass Mitarbeiter während ihrer Freizeit eine SMS oder E-mail vom Arbeitgeber erhalten, mit der Nachrichten über Dienstplanänderungen mitgeteilt werden, oft auch kurzfristig für den folgenden Tag. So auch im entschiedenen Fall: Die Beklagte teilte dem Kläger am 7. April, einem arbeitsfreien Tag, um 13:27 Uhr mit einer SMS mit, seinen für den Folgetag ursprünglich vorgesehenen unkonkreten elfstündigen Springerdienst (Beginn: 07.30 Uhr) in einen Tagdienst (Beginn 06:00 Uhr) geändert zu haben. Der Kläger nahm diese SMS nicht zur Kenntnis und bot seine Arbeitsleistung am 8. April wie ursprünglich geplant um 07:30 Uhr an. Die beklagte Arbeitgeberin setzte den Kläger nicht ein, erteilte eine Ermahnung, wertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und belastete das Arbeitszeitkonto mit 11 Minusstunden.

Das Landesarbeitsgericht hat mit aller Deutlichkeit entschieden: Das war rechtswidrig. Und die Begründung hat es in sich: Das LAG stellt klar, das Lesen einer solchen SMS sei Arbeitszeit. Der Arbeitnehmer erbringe mit dem Lesen eine Arbeitsleistung, die nicht dadurch zur Freizeit werde, dass sie nur einige Sekunden dauere. In seiner Freizeit sei der Arbeitnehmer aber nicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen verpflichtet. Ihm stehe ein „Recht auf Nichterreichbarkeit“ zu. Das diene dem Gesundheits- und Persönlichkeitsschutz. Der Arbeitnehmer verhalte sich auch nicht treuwidrig, wenn er sich weigere, in seiner Freizeit dienstlichen Tätigkeiten nachzugehen. Es sei der Arbeitgeber, der sich widersprüchlich verhalte: Einerseits gewähre er Freizeit, andererseits verlange er vom Arbeitnehmer, Arbeitsleistungen zu erbringen.

Es war mit anderen Worten nicht zu beanstanden, dass der Kläger seine Arbeitsleistung am 8. April wie zuvor geplant erst um 07.30 Uhr angeboten hat. Dadurch, dass die Beklagte die Entgegennahme dieser angebotenen Leistung abgelehnt hat, hat sie sich in Annahmeverzug begeben. Der Kläger hat daher einen Anspruch darauf, dass die Minusbuchung durch eine Gutschrift von 11 Stunden ersetzt wird.

Wenn sich dieses Urteil durchsetzt – es spricht einiges dafür, weil es überzeugend ist – werden viele Betriebe ihre Praxis umstellen müssen. Noch ist das Urteil aber nicht rechtskräftig. Revision ist eingelegt

Walther Grundstein
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht